Wasser. Chemisch H2O. Der Mensch besteht zu etwa drei Vierteln aus Wasser, das Gehirn sogar zu 90%. Wasser ist aber auch und vor allen Dingen ein Elixier, ohne das kein Leben möglich wäre. Obwohl die Erdoberfläche zu etwas über zwei Drittel aus Wasser besteht, ist gerade Trinkwasser ein kostbares und seltener werdendes Gut. Die Gewalt des Wassers ist legendär: wir denken an in Jahrmillionen abgeschliffene Bergformationen, an die verheerende Gewalt eines Tsunami, der auf das Festland trifft. Gleichzeitig ist sie gerne romantisch verklärt. Pärchen am Strand, Sonnenuntergang, Meeresrauschen. Noch Fragen? Augenfällig wird diese Naturgewalt an Plätzen wie dem grandiosen Wasserfall-Ensemble Iguazú an der Grenze zwischen Brasilien, Argentinien und Paraguay. Anja Ganster hat auf einer ihrer Reisen nach Brasilien u.a. die Wasserfälle besucht; das Resultat sind Filme, Fotografien und eine Installation. Die Fotografien zeigen „Wasserportraits“, jeweils eingefrorene Bewegungen, die wie Geisterportraits wirken, kaum greifbar und flüchtig, beinahe eher wie etwas Künstliches, als der Natur Entlehntes. Etwas von einem Portrait erhalten die Aufnahmen auch durch die Form, die der einer Büste ähnlich ist. Die Größenverhältnisse lassen sich in ihnen nicht mehr definieren – das close-up entreißt sie ihres Zusammenhangs.
In der Installation Deslocamento geht die Künstlerin zum ersten Mal, als Erweiterung ihrer malerischen Konzepte, in den Raum: Videoaufnahmen des Wassers an verschiedenen Stellen der Fälle, bevorzugt an solchen, an denen das Wasser nicht die höchste Geschwindigkeit hat, werden auf tektonisch geschichtete, weiße, gebaute Holzelemente projiziert. In klaren, meist vertikalen Formen ausgebildet, werden diese in die Tiefe gestaffelt, überlagern sich dabei optisch wie in einem Bühnenbild. Dabei ist die erwartete Geräuschkulisse ausgeblendet, dafür ist eine eigens für diese Installation in Auftrag gegebene und mit der Künstlerin eng abgestimmte Musik zu hören. Deslocamento projiziert das allgegenwärtige Wasser auf gebaute Strukturen, die einerseits der Architektur der Wasserfälle nahe kommen, auf der anderen Seite aber auch auf die urbane Architektur Brasiliens und die Ästhetik der Moderne rekurrieren. Stellt man sich im Zentrum Sao Paulos, das immerhin etwa 2209 Quadratkilometer mit 20,5 Millionen Einwohnern umfasst, auf eines der Hochhäuser, sieht man bis zum Horizont buchstäblich nichts als bebauten Grund. Die Erfahrung dieser Architekturwüste mit Hochhäusern, Einkaufszentren und allseits vorhandenen Schmuddelecken, die physische Erfahrung der größten Metropole der südlichen Erdhalbkugel, im Kontrast zur großartigen Natur des Landes, gibt einen Hinweis auf das Erleben der Installation. Auf der anderen Seite wird das Fließen des Wassers plötzlich zu etwas Abstraktem, ebenso wie die Elemente der gebauten Installation nicht mehr als klar erkennbare Struktur wahrgenommen werden. Das Bild, das sich dem Betrachter bietet, wird in viele Teile fragmentiert, zweidimensionale Bildprojektion und dreidimensionale Objekte treffen aufeinander, verschränken sich und erzeugen ein neues Bild, das sich der Assoziation öffnet: Lichter scheinen da auf, die Taktung des Bildes lässt einen Herzrhythmus entstehen; gefangen in einer hypnotischen Bildstruktur wird der Betrachter zum Zentrum der Installation. Die Dekonstruktion des Bildes führt zu einer Neukonstruktion, die die Grenzen zwischen Innen und Außen endgültig verschwimmen lässt. Ein gigantischer Strudel des Lebens begegnet dem Betrachter hier, die existentielle Erfahrung des Erlebens der eigenen Identität an einem fremden Ort. Es ist jeweils nur ein kleiner Ausschnitt aus der Flut des Wassers zu sehen. Auf diese Art und Weise wird das Fließen, die Bewegung beinahe choreographisch wiedergegeben, die Reflexe von Licht, das Tanzen des Lichts auf dem Wasser verlebendigen das Element, das sich, losgelöst aus dem Kontext der Fälle, verselbständigt.
Eines der Motive Anja Gansters, Brasilien zu besuchen, war, dem Lebensweg Walter Wüthrichs, des Gründers der Stiftung Brasilea in Basel, zu folgen und sich selbst auf eine Suche zu begeben. Deslocamento hebt auch darauf ab – auf die Versetzung in einen anderen, unbekannten Kulturkreis, die Erfahrung des Anderen am eigenen Ich, aber auch das Sehen und Aufnehmen einer anderen Welt.
Auch die malerischen Arbeiten beziehen sich auf diesen Themenkomplex. Am augenfälligsten wird dies in dem großen Panorama von Sao Paulo. Wie aus einem frühmorgendlichen Dunst schälen sich die Umrisse der Stadt auf der Leinwand, nur einzelne Partien sind schärfer gefasst und mit stärkerer Farbigkeit hervorgehoben. Wie in einem Traumbild oder in einer Vision kann man diese Stadtlandschaft erfassen, ohne sie tatsächlich vollständig wahrzunehmen.
Der offensichtliche, anarchische Wildwuchs der urbanen Architektur trifft sich hier mit dem Wuchern einer üppigen, tropischen Natur in Lateinamerika – der eine auf dem Vormarsch, das andere auf dem Rückzug begriffen. Im Kontrast dazu steht die Stadtansicht von Rio: das warme Licht der Metropole bei Nacht, das die Landschaft ringsum zum Glühen bringt, dazu Wasser und Berge, die die Ansicht rahmen. Hier blenden sich Stadt und Natur ineinander, verbinden sich auf harmonische Art und Weise, werden zu einem einzigartigen Reagenzglas voller Leben.
Die zeitgenössische Architektur und die Bauten einer südamerikanischen Moderne voller Offenheit, Licht und von Farbflächen akzentuiert, reflektieren in der Malerei die Situation von Innen und Außen, brechen die strenge Trennung immer wieder auf (O.T., Biennalegebäude, 2012). Anja Ganster liebt solche Situationen, dringt malerisch in sie ein und öffnet die Architektur durch vielfältige Reflexionen, optische Überlagerungen und das Licht, das von außen nach innen und von innen nach außen dringt. Eine Transparenz und Leichtigkeit geht von diesen so komplex organisierten Bildern aus, dass man nur zu staunen vermag. Die Transformation des Bildes aus der Wirklichkeit in eine malerische Konstruktion ermöglicht einen tiefer gehenden Blick in die Struktur von Raum, Licht, Bewegung und Zeit, die im Bild verschränkt und verdichtet werden.
In der Arbeit „Rua Agusta 320/1“ erblicken wir einen chaotisch organisierten Wohnraum, vollgestopft mit Möbeln und Dingen des täglichen Gebrauchs – kein Schöner Wohnen sondern ein schönes Beispiel eines bewohnten Raumes. Gleichzeitig sieht man aus dem Raum hinaus in einen Innenhof – die Trennung zwischen Innen und Außen ist optisch aufgelöst und man ist kaum in der Lage, zu sagen, was vor und hinter der Glasscheibe liegt, so sind die Tiefenelemente im Bild miteinander verwoben. Zimmerpflanzen schießen im Vordergrund in die Höhe und die Beleuchtung setzt vielerlei Glanzlichter, aber auch gleißend blinde Flecke, wie ein greller Scheinwerfer, der eine Art Bühne beleuchtet.
Auch das Theater selbst ist Thema; in „Bühne (Theatro Curitiba 1)“ sieht man eine Theaterbühne von hinten gegen den Zuschauerraum; allerdings ist der Blick darauf von Kulissen verstellt, diverse Requisiten stehen herum, in goldgelbes Licht getaucht, menschenleer. Der Raum des Geschehens ist in einem Zwischenreich – in Erwartung dessen, was geschehen wird und was bereits geschehen ist. Die Zeit steht quasi still – Momente, die Anja Ganster immer wieder in ihren Bildern einfängt.
Deslocamento – das Gefühl des Fremd-seins, des Beobachters, der selbst vielleicht unsichtbar ist, das Gefühl der Versetzung von einem Ort an einen fremden Ort, das einen Dinge sehen und wahrnehmen lässt, das anderen verschlossen ist – Anja Ganster gibt diesen Gefühlen einen greifbaren Rahmen, lässt uns nicht nur an einer geografischen Reise sondern auch an einer Zeitreise teilnehmen, an einer Reise voller Wunder, die unsere Welt und die Kunst von Anja Ganster uns bietet.