10. September – 29. Oktober 2015

Boris Kossoy – IMAGO – 50 Jahre Fotografie

Die Seele der fotografischen Bilder – Boris Kossoy

Diese Ausstellung ist für mich ein Wiedersehen mit meinen Bildern und daher auch mit mir selbst. Die hier zusammengestellte Fotosammlung war eine einzigartige Herausforderung in meiner Laufbahn als Fotograf, da ich beschloss, mein eigener Ausstellungsmacher zu sein, ein etwas unbequemes und auch riskantes Unterfangen, aber eine interessante Erfahrung, ein reifes Verständnis der Kraftlinien, die im Laufe der Zeit meinen Weg prägten. Angenehme Erinnerungen an Gefühle und Erkenntnisse, die sich mit den abgelichteten Objekten und Zusammenhängen an den verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten verschmelzen.

Eine Reise durch den Werdegang meiner Bilder vermengt sich mit meinem eigenen Werdegang. Aber in dieser Ausstellung drängte sich eine andere Logik auf: die chronologische und zugegebenermaßen bequeme Sichtweise beiseitezulegen, da sie das Risiko in sich birgt, eher zu einem „Inventar“ oder einer „Retrospektive“ zu führen; daher ließ ich diese Optionen gleich wieder fallen. Tatsächlich wichtig erschien mir, den Kern meiner ein halbes Jahrhundert andauernden Arbeit herauszustellen, aber in Form einer Geschichte mit einem gut durchdachten Drehbuch präsentiert, in der die Bilder von gestern ohne Weiteres mit den heutigen koexistieren könnten. Ohne Formkonflikte oder inhaltliche Kollisionen.

Andererseits ist die ästhetische Motivation die Wurzel der Gestaltung meiner Bilder, sie entsteht bei der Einschätzung des Objekts, in der Art, wie ich es wahrnehme und darstelle, sie liegt in der DNA dieses Schaffensprozesses, sie ist ihr Ausdruck. Im Verlauf der Zeit entstehen die plastischen und inhaltlichen Vernetzungen, und sie bilden mit der Zeit die Kompositionen und deren Unterteilungen: Die Ausgabe erlangt einen Sinn, die Erzählung ist geboren.

Beim Fotografieren schaffen/gestalten wir Wirklichkeiten. Ich habe immer beobachtet, wie die Wirklichkeiten und die Fiktionen zu einer einzigen Mitteilung verschmelzen, ein Zusammenleben, das nicht nur in der theatralischen Inszenierung seinen Platz hat (meine Serie Viagem pelo Fantástico der 1970er Jahre, zum Beispiel), sondern das der Fiktion die eigentlich tragende Gestaltungsrolle bei der Produktion der fotografischen Darstellung zugesteht: ein technischer, ästhetischer, kultureller und ideologischer Plot. In anderen Serien in den darauf folgenden Jahren konnte ich das feststellen und am Feinschliff der Idee weiterarbeiten, wie die einer Szene oder sogar der unscheinbaren Gegebenheit auferlegte Atmosphäre einen Verfremdungseffekt hervorrufen kann, etwas, das in der Luft liegt, Eindrücke, die keine klare Gestalt annehmen.

Als theoretische Übung unternehmen wir das genaue Gegenteil: Wir versuchen, die Gestaltung der Bilder aufzulösen. Die Auslegung findet in diesem Punkt ihr Fundament und Instrument. Wir haben hier einen Ausgangspunkt zum Auseinandernehmen der Bilder, einen Zugang dazu, ihnen auf den Grund zu gehen: dem Enthüllen ihrer vielfachen, verborgenen inneren Bedeutungsschichten.

Das fotografische Bild wird, wenn es einmal geschaffen wurde, zu einer eigenen Wirklichkeit, einer zweiten Wirklichkeit. Es ist die Welt der Darstellung, eine parallele, widersprüchliche Welt, die sich aus gestalteten Wirklichkeiten und dokumentarischen Fiktionen zusammensetzt, in welcher die Bilder fortleben, eine Ähnlichkeit zum Objekt beibehalten, aber ein Eigenleben führen und sich ewig neu erfinden.

An dieser Stelle ist die Versuchung groß, mich ausführlich über mein Werk auszulassen, aber es wäre uninteressant, zu wiederholen, was ich bereits anderweitig ausführlich geschrieben habe, insbesondere in Boris Kossoy, fotógrafo (Cosac & Naify, São Paulo, 2008). Dennoch sollten hier vielleicht einige Aspekte meines Schaffensprozesses angesprochen werden.

Die Comics, die Mystery-Literatur, das Theater und das Kino, die Bildende Kunst und die Architektur, die Fantasiebilder der Geschichte und der magische Realismus haben mich seit meiner Jugend beeinflusst und mich zu dem Weg geführt, den ich als Fotograf gehen sollte. Tatsächlich lagen Magie, Mysterium und Erinnerung immer im Kern meines Werkes. Ich suche und finde einen großen Teil meiner Themen im Zusammenhang der sogenannten konkreten, unmittelbaren Wirklichkeit. Daran faszinieren mich bestimmte alltägliche Szenarien und Fakten, die an anderen Menschen meist unbemerkt vorbeiziehen: Ich kann es nicht lassen, bestimmte Vorfälle festzuhalten, die mir an den Häusern, Straßen, Wegen, Fenstern, auf die ich meine Kamera richte, auffallen, nach Hitchcock-Manier, indem ich stets versuche, das Drama, das sich gerade in einer Wohnung, in den Schaufenstern der Geschäfte, in der Verführung einer Geste, in der Unruhe eines Blickes abspielen könnte, zu enthüllen.

Natürlich nehmen einige Personen eine hervorgehobene Stellung in meinem Werk ein, das erkennt man an der verspielten Haltung von Herrn Américo, an den Schaufensterpuppen, die uns traurig anschauen, hier und dort in den unbelebten Figuren aus Stein, Papier und Porzellan, die auf dem fotografischen Bild in die Kategorie von Menschen erhoben werden oder umgekehrt, da in dieser Eigenschaft beide zu statischen Objekten werden, die durch die Aufnahme eingefroren wurden. Die Fantasie ist auch präsent, wenn wir uns von der stillen Landschaft eines Nachmittags an einem nicht enden wollenden Tag in Marbach betören lassen, oder wenn wir keine Angst davor haben, in einen Wald einzudringen, der vielleicht verwunschen ist, in dem die Luft grün ist, auf dem Aussichtspunkt eines Hügels in der Nähe der Stadt São Paulo.

Durch den Kameraverschluss halte ich das Außenleben fest, gelenkt von der Intuition, der Emotion, den Bildern meiner Vorstellungswelt: meinem mentalen Kaleidoskop. Ich beobachte die Gegebenheit, und meine Vorstellungskraft übertrifft sie, lenkt in eine bestimmte Richtung, alles trägt zu etwas bei und ergänzt sich, Szenen und Fakten zeigen sich mir, und ich übertrage sie in die Dimension des fotografischen Bildes. Schöpfung und Reflexion.

Nicht selten stoße ich auf Situationen, die mir bekannt scheinen, es kommt mir eine diffuse Erinnerung an eine vergangene, verblasste Zeit, eine andere Zeit. So war auch mein Werdegang: festgehaltene Eindrücke auf Reisen durch unbekannte geografische Gegebenheiten, auch eine Art, sich selbst zu entdecken und den eigenen Ängsten in die Augen zu schauen.

Ich versuche weiterhin, in meinen Fotografien über das explizite Objekt hinauszugehen, über das Offensichtliche, das Erscheinungsbild, den Rohstoff der Fotografie, ihre äußerliche Wirklichkeit; ich suche in den Bildern Spuren für die geschichtliche Wiederherstellung ihrer Genese und der Tatsachen der Vergangenheit, welche von ihnen dargestellt werden. Ich richte daher meine Aufmerksamkeit auf das, was die Kamera nicht festhält, das Verborgeneder Darstellung, ihre innere Wirklichkeit.

Nachdem nun 50 Jahre seit meinen ersten Schritten in der Fotografie vergangen sind, ist diese Dichotomie des Offensichtlichen/Verborgenen die ständige Herausforderung, die mich motiviert und berührt. Das Festhalten von Eindrücken an sich auch, aber noch viel mehr als das: nämlich die Darstellung. Hinter jeder Fotografie steht eine Geschichte, und jede Geschichte ist voller Darstellungen. Ich versuche, in meinen Bildern die Seele dieser Darstellungen einzufangen. Hierin liegt das Konzept.

Danken möchte ich zum Schluss meinem Freund Jorge Coli für sein einfühlsames Geleitwort, das er für meine Arbeit verfasst hat, Carlos Fadon Vicente, meinem langjährigen Freund und weisen Ratgeber, und vor allem Malu, meiner Partnerin, für die Liebe und die Kraft in allen Momenten dieser langen Reise.

Produziert by VernissageTV

Vernissage, 11. April 2013