SAMMLUNG

WALTER WÜTHRICH

Franz Josef Widmar
ohne Titel, Nr. 408, Öl auf Leinwand, 46 x 38 cm

Die weltweit umfangreichste und anschaulich in einer permanenten Ausstellung präsentierte Sammlung von Bildern des österreichischen Künstlers Franz Josef Widmar bildet das eigentliche Herzstück der Stiftung Brasilea; bis heute fehlt ein umfassender Überblick über die mehr als 500 Werke. Die vorliegende Publikation zeigt erstmals eine grössere Auswahl an Bildern Widmars aus der Sammlung Wüthrich. Sie soll damit den Anspruch eines repräsentativen Querschnitts durch das vielfältige künstlerische Schaffen Franz Josef Widmars einlösen; gleichzeitig soll ein Einblick in die Sammlung der Stiftung ermöglicht werden, um damit einen weiteren Grundstein zu legen für eine intensivierte und fortdauernde Auseinandersetzung mit einem Oeuvre, das bis anhin auf wenig Beachtung gestossen ist.

Eine Frage muss jeder Betrachtung von Franz Josef Widmars künstlerischem Schaffen vorangestellt werden: wie geht man um mit einem Werk, das auf den ersten Blick keine erkennbare persönliche Handschrift zu tragen scheint, dessen Hauptmerkmal vielmehr im ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Stilen und Gattungen liegt? Ein Durchgang durch die Sammlung von Gemälden mutet ein wenig an wie ein Querschnitt durch die Kunstgeschichte der letzten 150 Jahre. Es gibt kaum eine Stilrichtung, der Widmar sich im Laufe seines Schaffens nicht zugewandt hat, kaum eine Gattung, für die er sich nicht interessiert hätte, kaum eine Technik, an der er sich nicht versucht hat. Doch wenn es darum geht, in einem künstlerischen Werk die Motivation des Autors zu erkennen, gleichsam die Grundlage für dessen Handeln also, dann sucht man für eine solche Einschätzung zuerst nach den Konstanten; nach Fixpunkten, die es erlauben ein Raster zu zeichnen, anhand dessen sowohl die künstlerische Entwicklung als auch das handwerkliche wie geistige Spektrum des Autors fassbar werden. Die Rede von der «Seele» eines künstlerischen Oeuvres orientiert sich an eben diesen Erkennungsmerkmalen, die untrennbar mit dem Wesen des Künstlers selbst verknüpft sind. Solchen Bemühungen stehen insbesondere die fehlende Konstanz in seinem Oeuvre hinsichtlich stilistischer Merkmale sowie die teils markante Diskrepanz der Qualität der Bilder entgegen.

Franz Josef Widmar scheint nicht am Ephemeren eines theoretischen Diskurses interessiert gewesen zu sein, sondern eine dahinter liegende Wahrheit gesucht zu haben. Eine Wahrheit, die freilich nie den Anspruch nach Allgemeingültigkeit erhebt, die gleichsam ihre vielfältigen Bedingungen in die denkbar engste Beziehung zum Künstler selbst rückt. Widmars künstlerische Auffassung, die immer mit seinen ganz eigenen Vorstellungen vom Bild des Künstlers korrespondiert, ist eng mit seinen allgemeinen Lebensbedingungen verknüpft. Durch die andauernden finanziellen Zuwendungen einiger Freunde scheint Franz Josef Widmar eine minimale, für ihn jedoch ausreichende Lebensgrundlage gefunden zu haben. Trotzdem wäre es verfehlt zu behaupten, Widmar sei lediglich ein Auftragsmaler gewesen. Widmar scheint sich nie gross um seine, teils prekäre, wirtschaftliche Situation gekümmert zu haben. Malen zu können und sich einen gewissen Freiraum in eben diesem Tun zu bewahren; mit diesen bescheidenen Ansprüchen, die er dennoch nie als selbstverständlich hinnahm, schien er sich zeitlebens begnügt zu haben. So konnte er im Umfeld von Rio de Janeiro seine künstlerische Vision verwirklichen, weitab von jenen Zentren, in denen der kunsthistorische Diskurs mit grossem Eifer geführt, und die künstlerische zu einer zunehmend akademischen Laufbahn wurde.

Weil wir kaum konkrete Informationen zu seiner (künstlerischen) Ausbildung besitzen und das früheste datierbare Werk der Sammlung in die Mitte der 50er Jahre fällt, lässt sich keine Aussage darüber treffen, ob Widmar überhaupt jemals an einer einzigen Stilrichtung über einen längeren Zeitraum festgehalten hat. Es ist verhältnismässig einfach, die vielfältigen Einflüsse verschiedener Stilrichtungen und Epochen in seinem Werk zu erkennen. Weitaus komplexer wenn nicht unmöglich gestaltet sich die Aufgabe, eine Hierarchie dieser Einflüsse zu skizzieren. Natürlich ist an einigen Stellen unverkennbar der Einfluss Oskar Kokoschkas und anderer beteiligter Künstler rund um die Wiener-Secession und die spätere Kunstschau-Gruppe erkennbar. Andere Bilder erinnern stark an Paul Klee oder scheinen den ins Bild übersetzten Ansichten der späten Impressionisten sehr nahe zu stehen, um nur einige Beispiele anklingen zu lassen.

Widmars Oeuvre ist voller Reminiszenzen, Zitate und Anlehnungen. Eine platte Auflistung verschiedener Einflüsse würde unweigerlich in einen beinahe beliebig erweiterbaren Katalog künstlerischer Stilrichtungen und eine Aufzählung der bekanntesten Protagonisten der Malerei, zumindest der letzten 150 Jahre, münden. Eine solche Auseinandersetzung würde lediglich um ihrer selbst Willen geführt werden, ohne Wesentliches zum Verständnis von Widmars Oeuvre beitragen zu können. Die Anzahl und der Stellenwert der Verweise lassen den Ansatz obsolet erscheinen, das künstlerische Oeuvre mit Hilfe eines hierarchisch katalogisierten Spektrums verschiedener Quellen fassbar machen zu wollen. Im Einzelfall oder auf isolierte Werkgruppen bezogen, ist eine solche Methodik durchaus sinnvoll (und soll an anderer Stelle auch zum Tragen kommen). In Bezug auf die Gesamtheit der Bilder indes, wird eine solche Herangehensweise der Vielfalt jedoch nicht gerecht. Stattdessen gilt es den Umstand zu akzeptieren, dass Widmar sich der Kunstgeschichte bediente als eine Art «Bibliothek der Bilder». Jedes Bild – unabhängig seines künstlerischen Wertes – repräsentiert zunächst einmal eine individuelle Erwartungshaltung seines Autors. Ein Bild ist demnach das Resultat einer, von einer Person an sich selbst gestellten Aufgabe. Es kann nicht Widmars primäres Ziel gewesen sein, einen eigenen Stil zu entwickeln, bis zu jenem Punkt hin, an dem dieser Stil der eigene ist, unverkennbar in seiner sichtbaren Ausgestaltung. Er hat sich aus seiner eigenen «Bibliothek der Bilder» bedient, wie andere sich für eine bestimmte Aufgabe eines bestimmten wissenschaftlichen Ansatzes, einer spezifischen Theorie oder eines Buches bedienen. Für Franz Josef Widmar war zur Veranschaulichung einer bestimmbaren, vorgefassten Idee primär die Frage entscheidend, welchen Stils sich der Maler bedient. Die Möglichkeit einer künstlerischen Aussage im Bild war für ihn demnach in der Bandbreite der stilistischen Potenzialitäten angelegt; erst in einem zweiten Schritt sind Aspekte des malerischen Talents, des Blickes und der inneren Überzeugung, das für ihn Wahre im Bild finden zu können, von Bedeutung. Diese unterschiedlichen Ebenen sind nur in wechselseitiger Beziehung zueinander verstehbar und erst durch Widmars grosses künstlerisches Talent geraten seine Bilder zu ihrer genuinen Aussagekraft und einer Qualität, die weit mehr sein kann als blosses Zitat. Einer solchen Auffassung haftet naturgemäss ein experimenteller Charakter an, bedingt eine darin begründete künstlerische Praxis doch immer auch die wiederholte Erschliessung neuer Territorien. Auf diese Weise lässt sich auch die qualitative Diskrepanz besser deuten, die im Oeuvre Widmars deutlich wird: so rührt die teils unbeholfene Art einiger Bilder vielmehr von der Tatsache, dass Widmar sich nie zufrieden gegeben hat und auf der Suche nach Ausdrucksweisen auch die Berührung mit neuen Stilrichtungen und Gattungen nie gescheut hat; freilich mit der Konsequenz, dass nicht allen Bildern die gleiche Sicherheit der Umsetzung gemein ist.

Widmars künstlerischer Ansatz korrespondiert kaum mit dem herkömmlichen Erfahrungshorizont, wonach das Oeuvre eines Künstlers nicht zuletzt die Illustration einer Suche nach ganz eigenen Darstellungsstrategien repräsentiert. Darüber vergessen wir aber allzu leicht, dass Franz Josef Widmar nach seiner Ausreise nach Brasilien in einem Umfeld tätig war, das damals kaum etwas mit der Kunstlandschaft Europas und Amerikas gemeinsam hatte. So nahm Widmar zwar die Eindrücke und Erfahrungen seiner Zeit in Europa in sich auf und sein Werk zeigt sehr deutlich eine anhaltende Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit. Allerdings scheint der experimentelle Charakter seiner künstlerischen Tätigkeit nur aus der Tatsache heraus erklärbar, dass Widmar in Brasilien eben nicht direkt in jenen «westlichen» Diskurs eingebunden gewesen war. In Rio scheint Widmar jene schöpferische Freiheit gefunden zu haben, die grundlegend ist für ein Werk, über dessen Vielfältigkeit die folgenden Seiten einen Eindruck vermitteln möchten.

ohne Titel, Nr. 508, Öl auf Leinwand, 46 x 38 cm

DAS OEUVRE DES KUNSTMALERS

FRANZ JOSEF WIDMAR

Das Lebenswerk dieses in  Österreich geborenen und  1995 in Brasilien verstorbenen Künstlers hat im weitläufigen Kulturzentrum der Stiftung Brasilea im Basler Rheinhafen eine bleibende Heimstätte gefunden. Die 527 meist auf Pavatex gemalten Werke werden im 1. Obergeschoss des markanten Gebäudes übersichtlich präsentiert. Beim Betrachten dieser nach Themen gruppierten Bilder, die in hunderten von Facetten schillern, entsteht der Eindruck, dass sie von diversen Kunstmalern interpretiert sind. Die stilistische und thematische Vielfalt ist überwältigend!

Suche nach dem Sinn des Lebens

Die fortschreitende Globalisierung der Welt hat die intellektuelle Ausstrahlung und Formalität der Malerei von Franz Josef Widmar nicht tangiert. Ihre zarte Sinnlichkeit und Unbeschwertheit illustriert das ständige Suchen des Künstlers nach der Wahrheit und dem Sinn des Lebens. In der Einsamkeit seines brasilianischen Ateliers plädierte er für eine intakte Natur, die er mit sicherem Pinselstrich und raffinierten Farbkompositionen zu neuem Leben erweckte. Sein Werk manifestiert eine faszinierende Reise in die Welt der Erinnerungen – ein Sehnen nach Freiheit und sozialer Ungebundenheit.

Friedrich von Schlegel (1772 bis 1829) meint treffend, dass der klassische Mensch das Zentrum des Lebens in sich selber trage. Vielleicht entspricht auch das innere Gleichgewicht und die Romantik der Bilder von Franz Josef Widmar dieser Maxime! Gedanken an Runge, Corot oder Töpfer werden wach. Auf verschiedenen Gemälden schildert der Künstler die Vergänglichkeit des Daseins und die Leiden Christi am Kreuz. Mit scharfer Beobachtungsgabe gestaltet er, mit subtiler Pinselführung und akribischer Spachteltechnik, eine Reihe markanter Porträts, darunter mehrere Selbstbildnisse. Er lässt sich dabei vom Malstil eines Gaugin, Cézanne, van Gogh oder Hodler beeinflussen. Es gelingt ihm zudem, die kompositionelle Willkür der japanischen Malerei mit ihrem zarten Farbenspiel in grossformatige Blumenbilder mit zauberhafter Ausstrahlung zu übersetzen, welche an Farbholzschnitte von Harunobu oder Hiroshige  erinnern. Dass sich Franz Josef Widmar auch vom modernen Konstruktivismus inspirieren lässt, beweisen seine virtuosen figürlichen Spiele oder die in den Raum integrierten Flächen, wie sie 1910 bei William Wauer und später auch bei Klee auftreten. Ein prägnantes Frauenbildnis erinnert an die farbigen Mosaiken von Ravenna und andere Kompositionen lassen an byzantinische Ikonen denken. Sie führen zur ewigen Gestalt des Menschen oder in unberührte Landschaften zurück.

Ein endgültiges Urteil über den künstlerischen Wert dieses vielschichtigen Oeuvres kann erst die Zukunft fällen. Für die objektive Einschätzung der aktuellen Konstellation spricht die Dynamik und Sicherheit sowie das handwerkliche Können des Kunstmalers. Meine persönliche Meinung zu diesem multiplen Oeuvre: Franz Josef Widmar hat sein Werk aus innerer Berufung komponiert!

José Warmund-Cordelier

PORTRAIT

In Franz Josef Widmars umfangreichem Oeuvre nimmt die Porträtmalerei numerisch eine Sonderstellung ein. Neben der Landschaftsdarstellung findet kein Genre in quantitativer Hinsicht eine vergleichbare Berücksichtigung. Ob nun die Vorstellungen und Ansprüche seiner Auftraggeber, oder eine besondere Affinität Widmars zu der Personendarstellung den entscheidenden Ausschlag für diese fundierte Auseinandersetzung des Künstlers mit dem menschlichen Individuum gaben, ist nicht zu beantworten. Was aber an dieser Stelle festgehalten werden kann, ist die Tatsache, dass Widmar die Darstellung von Personen als ein tragendes Element seiner Kunst auffasste.

Bereits der hier aufgeführte, der Zahl nach sehr bescheidene Werkausschnitt aus den Personendarstellungen des Malers, lässt die frappierende Vielfalt verwendeter Stilrichtungen in aller Deutlichkeit aufscheinen. Die stilistische Heterogenität beschränkt sich freilich nicht auf die Gattung des Porträts, kommt hier jedoch, aufgrund der grossen Anzahl an Werken, sehr deutlich zum Tragen.

ohne Titel, 1954, Nr. 406, Öl auf Leinwand, 52.5 x 41.5 cm
ohne Titel, Nr. 508, Öl auf Leinwand, 46 x 38 cm

Widmars Porträts erinnern an eine Suche nach der künstlerischen Darstellung einer Person, die in der Lage ist, nicht nur die Ähnlichkeit der Erscheinung einzufangen, sondern darüber hinaus jene Merkmale, die den porträtierten Menschen als Individuum auszeichnen. Er fahndete – unter zur Hilfenahme der verschiedenartigsten kompositorischen Ansätzen – nach befriedigenden Lösungen, in welchen das ganze Wesen des Dargestellten zu Ausdruck gelangen kann. Die Stilvariationen reichen vom Abbild mit naturalistischer Virtuosität bis hin zur fast abstrakten oder expressiven Darstellung, die den porträtierten Menschen nur noch fragmentarisch in der Komposition aufscheinen lassen. Dass die stilistisch umfangreiche Interpretation dieses Themas nicht einfach als naheliegende Konsequenz einer tiefgründigen Auseinandersetzung des Künstlers mit der Porträtmalerei ausgelegt werden darf, wird durch Widmars übriges künstlerisches Schaffen veranschaulicht.

ohne Titel, Nr. 184, Öl auf Leinwand, 54 x 46 cm
ohne Titel, Nr. 410, Öl auf Leinwand, 74 x 54.5 cm

Dennoch manifestiert sich gerade in seinen Personendarstellungen ein schöpferisches Ringen um die Wiedergabe der äusseren Erscheinung des porträtierten Menschen, das Erfassen der jeweiligen Persönlichkeit und die Auswahl eines adäquaten Malstils. Dadurch wird die Relevanz der stilistischen Ausprägung des Dargestellten kennzeichnend in diesem Genre apostrophiert. Die drei Porträts von Walter Wüthrich (vgl. Abbildungen S. 3 / Nr. 408, S. 24 / Nr. 410 & S. 25 / Nr. 357) attestieren dem Künstler ferner die Bereitschaft, die Ergründung des Wesens einer mehrfach von ihm porträtierten Person nicht alleine auf eine einzige Manier der künstlerischen Wiedergabe zu beschränken. Widmar scheint das Auswahlverfahren des Malstils als ausschlaggebende Grösse auf der Suche nach dem Ausdruck eines Menschen a priori nie festgelegt zu haben, um dadurch das Wesen seiner Modelle über verschiedene künstlerische Zugänge ergründen zu können. Dies ist umso interessanter, als dass der Künstler seine Arbeiten in der Porträtmalerei naturgemäss nicht nur gegenüber sich selbst sondern ebenso gegenüber seinen Modellen zu verantworten hatte. Doch selbst in diesen Fällen scheint Widmar seine künstlerischen Anliegen über die Ansprüche und Erwatungen der porträtierten Personen gestellt zu haben. Die Bildfindung gerät so zum Prozess, der sich ganz auf den Künstler in Bezug zu seinen Vorstellungen beschränkt; damit wird auch der Vorwurf unhaltbar, Widmars Bilder seien einfache Auftragsarbeiten.

ohne Titel, 1972, Nr. 568, Öl auf Leinwand, 81 x 61 cm
ohne Titel, 1972, Nr. 568, Öl auf Leinwand, 81 x 61 cm
ohne Titel, 1972, Nr. 568, Öl auf Leinwand, 81 x 61 cm
ohne Titel, Nr. 361, Öl auf Leinwand, 61 x 50 cm
ohne Titel, Nr. 465, Öl auf Leinwand, 45 x 36 cm
ohne Titel, Nr. 443, Öl auf Leinwand, 61 x 50 cm
ohne Titel, Nr. 472, Öl auf Leinwand, 62.5 x 54 cm
ohne Titel, 1955, Nr. 425, Öl auf Leinwand, 55 x 46 cm
ohne Titel, Nr. 343, Öl auf Leinwand, 83 x 60 cm

LANDSCHAFTSDARSTELLUNGEN

Widmars Landschaftsdarstellungen nehmen, wie eingangs bereits erwähnt, neben der Porträtmalerei alleine schon in numerischer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Widmars Drang zu malen war beinahe zwanghaft. Mit einem Motorrad fuhr er in den Stadtteil von Santa Tereza, erschloss sich Schritt für Schritt die Landschaften von Petrópolis und Nova Friburgo und besuchte verschiedene Kleinstädte des Staates Rio. Dabei fertigte er Skizzen an, die ihm später als Vorlagen für seine Ölbilder dienten, die er stets im Atelier zu malen pflegte. Der Landschaft war Widmar zeitlebens besonders zugetan. In den abgelegenen Orten rund um Rio fand er den schöpferischen Freiraum, der seine Bilder so stark geprägt hat. Dabei stellte er seine momentanen Empfindungen und Eindrücke stets über ein mögliches «Dogma des eigenen Stils». Auf sehr direkte Art und Weise sprechen seine Landschaften von den unterschiedlichen Gefühlsregungen Widmars und seiner ganz eigenen Sichtweise auf die Dinge. Eine Sichtweise freilich, die nicht immer einfach nachzuvollziehen ist und deren Pathos und Sentimentalität durchaus überfordern kann.

ohne Titel, Nr. 327, Öl auf Leinwand, 91 x 76 cm

Es ist eben diese unbefangene und eigenwillige Auslegung der Landschaftsmalerei, die dieses Thema anschaulich charakterisiert. Der aus Europa immigrierte Künstler fand eigene Zugänge zu dieser prominenten Gattung der Malerei und vielleicht gerade wegen seiner Abstammung ganz persönliche Interpretationsmöglichkeiten, die einem in Brasilien heimischen Künstler schon alleine aufgrund seines kulturellen Hintergrunds verwährt geblieben wären. Widmar stellt in seinen Landschaftsdarstellungen sowohl sein Auge für die Wiedergabe des Malerischen der Natur unter Beweis, als auch das sensible Gespür eines neugierigen Entdeckers, der sich forschend, in einer für ihn neuen und aufregenden Umgebung zu orientieren versucht. Er verspürte den Drang, in seinen Bildern das einzufangen, was die Umgebung aus seiner persönlichen Sichtweise auszeichnet.

ohne Titel, Nr. 493, Öl auf Leinwand, 53 x 40 cm
ohne Titel, Nr. 490, Öl auf Leinwand, 60 x 44.5 cm

Dass er dabei auch atypische Motive in seiner Landschaftsmalerei berücksichtigt, unterstreicht nicht nur seinen kennzeichnenden künstlerischen Eigensinn, sondern vermittelt vereinzelt auch Bilder von Landschaften, die aus den Augen eines Fremden wahrgenommen wurden.

Vielleicht ist dies mit ein Grund, weshalb auch schwermütige, melancholische Darstellungen Einlass in seine Landschaftsbilder gefunden haben. So zeugt beispielsweise die  Landschaft mit einem Weg im Sonnenuntergang (vgl. Abbildung S. 50 / Nr. 511) von einer sentimentalen Seite des Künstlers, in der man durchaus auch eine Spur von Heimweh vermuten kann. Hier gerät das Bild zur Projektionsfläche ganz persönlicher Wünsche und Vorstellungen. Indes liegt in der Unbestimmbarkeit eben dieser Projektionen die eigentliche Faszination einer möglichen Auseinadersetzung mit Widmars Landschaftsdarstellungen. Gerade weil sie dem Betrachter einen grossen Spielraum für eigene Gedanken offen lassen, gerät auch das Bild von Widmars Person zu einer Projektionsfläche, die letztendlich jeder für sich ausmalen muss.

ohne Titel, Nr. 432, Öl auf Leinwand, 55 x 46 cm
ohne Titel, Nr. 433, Öl auf Leinwand, 50 x 45.5 cm
ohne Titel, Nr. 276, Öl auf Leinwand, 100 x 90 cm
ohne Titel, Nr. 292, Öl auf Leinwand, 75 x 61 cm
ohne Titel, Nr. 382, Öl auf Leinwand, 83 x 68 cm
ohne Titel, Nr. 239, Öl auf Leinwand, 75 x 61 cm
ohne Titel, Nr. 270, Öl auf Leinwand, 100 x 81 cm
ohne Titel, Nr. 236, Öl auf Leinwand, 122 x 85 cm
ohne Titel, Nr. 511, Öl auf Leinwand, 47 x 41.5 cm

STILLLEBEN

Klassifiziert man die Bildinhalte der Malerei Franz Josef Widmars nach grösseren, autonomen Werkgruppen, drängt sich eine Zusammenlegung seiner Stilllebendarstellungen auf; die ausführliche Aufarbeitung dieses Themenkreises legitimiert einen Zusammenschluss dieser Arbeiten als eigenständigen Bereich seiner Malerei. In diesem Zusammenhang verdienen der Farbauftrag durch Spritztechnik und der Einsatz verwässerter Farbe vornehmlich Beachtung, eine, gerade für diese Gattung, eher unkonventionelle Maltechnik. Die Malweise ist vereinzelt auch in anderen Bildern Widmars anzutreffen, darf aber in seinen Stilllebendarstellungen formal als ein prägendes Element geltend gemacht werden. In der Ähnlichkeit der ungelenkten Farbtupfer mit der natürlichen Erscheinung von Blumen mag womöglich ein Erklärungsansatz liegen für die häufige Berücksichtigung dieses Gegenstands als Motiv der Stillleben. Es bleibt anzuführen, dass die Werkgruppe nicht etwa von klassischen Blumenstillleben mit Interieur dominiert wird, als vielmehr von Arbeiten, die durchaus auch als eigentliche Naturstudien ausgelegt werden können. Diese Deutungsvariante erscheint insofern angemessen, als dass Widmar nur in seltenen Fällen (vgl. Abbildung S. 62 / Nr. 359) einen Tisch und eine darauf stehende Vase als klassische Grundelemente von Blumenstillleben aufgreift.

ohne Titel, Nr. 492, Öl auf Leinwand, 61 x 50 cm

Dass Widmar durchaus über die Fähigkeiten verfügt, auch traditionellen Kompositionsformen zu entsprechen, zeigt sein Atelierstillleben (vgl. Abbildung S. 53 / Nr. 492). Die Arbeit zeugt von einem tiefen Verständnis für das Arrangement der aufgeführten Gegenstände (Malsachen in einem Atelier), die Lichtführung und die Farbgebung. Im Durchblick auf die geöffnete Tür im Hintergrund gewinnt das beinahe sphärisch wirkende Innenleben des Raumes an zusätzlicher Spannung. Das Atelier gerät zum veritablen Labor des Künstlers, in das der privilegierte Betrachter einen intimen Einblick erhält. Widmar schreibt dem Raum einen beinahe sakralen Charakter zu; eine Geste, die nicht zuletzt auf die (Selbst-) Stilisierung des Künstlers verweist. Die dargestellten Utensilien scheinen als Partner eines stummen Dialogs mit dem Künstler selbst schon immer da gestanden zu haben.

ohne Titel, Nr. 091, Öl auf Leinwand, 160 x 60 cm
ohne Titel, Nr. 090, Öl auf Leinwand, 160 x 60 cm

Das Fehlen der Person des Künstlers, die versucht, die schlichten Dinge der Wirklichkeit, ihr Sein und Schein, durch die Malerei zu veranschaulichen, lässt ihren Anspruch auf das Atelier als Ort der künstlerischen Umsetzung nur umso deutlicher aufscheinen. Wenn man davon ausgeht, dass Widmar hier wahrscheinlich sein unmittelbares Arbeitsumfeld – womöglich sein Atelier im Posto Quatro an der Copacabana – und die Werkzeuge seiner täglichen Beschäftigung dargestellt hat, und man darüber hinaus die gemalten Gegenstände als Wiederschein der Gedanken und des Handwerks des Künstlers selbst interpretiert, so gehört diese Arbeit wohl zu den persönlichsten Darstellungen von Franz Widmar überhaupt. Widmars Obsession für die Malerei, sein Drang nach einer Auseinandersetzung mit der direkten Umwelt über das gemalte Bild manifestiert sich auf eindringliche Art und Weise in der dichtgedrängten Komposition. Die Malutensilien geraten zu sehr persönlichen Werkzeugen im Dienste seiner ganz eigenen Aneignung von Realität. In der gestalterischen Intensität spiegelt sich Widmars Gebundenheit an eben diese Werkzeuge, denen er mit diesem Stillleben ein Denkmal gesetzt hat.

ohne Titel, Nr. 366, Öl auf Leinwand, 70.5 x 70 cm
ohne Titel, Nr. 106, Öl auf Leinwand, 100 x 70 cm
ohne Titel, Nr. 360, Öl auf Leinwand, 85 x 74 cm
ohne Titel, Nr. 358, Öl auf Leinwand, 84 x 74 cm
ohne Titel, Nr. 309, Öl auf Leinwand, 100 x 57.5 cm
ohne Titel, Nr. 122, Öl auf Leinwand, 89.5 x 61 cm
ohne Titel, Nr. 359, Öl auf Leinwand, 84 x 74 cm
ohne Titel, Nr. 236, Öl auf Leinwand, 122 x 85 cm
ohne Titel, Nr. 511, Öl auf Leinwand, 47 x 41.5 cm

GEOMETRISCHE & ABSTRAKTE MALEREI

Das Fehlen einer festen inhaltlichen und bildkompositorischen Kontinuität dieser Darstellungen erschwert die Einteilung in eine klar umrissene Werkgruppe erheblich. Aus diesem Grund lässt  sich kein einheitlicher Zugang zu der geometrisch abstrakten Malerei Widmars aufzeigen. Die eindeutige Einteilung einiger Bilder in formal definierte Werkgruppen ist nicht zwingend und muss in der Betrachtung des Oeuvres von Franz Josef Widmar auch an anderer Stelle relativiert werden.

Wenn sich auf einem Bild ein tanzendes, sich küssendes Paar zu erkennen gibt und eine andere Darstellung die Sicht aus der Vogelperspektive auf eine Grossstadt zeigt, abstrahiert der Künstler darin in der materiellen Realität vorhandene Objekte. Dabei zeigt Widmar einen ausgeprägten Sinn für die Farbwirkung und die Komposition schlechthin. Das tanzende Paar gerät durch die ausgewogene Farbgebung zur Einheitsfigur, die ein emotionales und körperliches Gefühl der Verbundenheit und des Zusammengehörens spiegelt. Die Figur kann nicht mehr als Nebeneinander von zwei getrennten Entitäten gedacht werden, sondern gelangt erst durch die ins Bild übertragene, körperliche  Synthese zu ihrer eigentlichen Bedeutung; Mann und Frau definieren sich in dem Bild erst durch ihre Verbundenheit zueinander.    

ohne Titel, Nr. 313, Öl auf Leinwand, 122 x 80.5 cm

iese Werkgruppe auch Arbeiten, die vielmehr Geistiges zu materialisieren versuchen. Diese gegenstandslose Richtung der Malerei lässt sich durch zwei Darstellungen (vgl. Abbildungen S. 72 / Nr. 003 & S. 73 / Nr. 002 ) besonders gut veranschaulichen. In den beiden Bildern sind geometrische Flächen spiralförmig arrangiert und erzeugen den Eindruck einer dynamischen Tiefenwirkung. Widmar lehnt hier jeden Rest von bildlicher oder figürlicher Darstellung ab. Primärfarben sind ihrem Stellenwert nach auf die gleiche Ebene gesetzt wie die rein und im Mischverhältnis vorkommenden Farben Schwarz und Weiss. Hier tendiert der Künstler zur «Konkreten Kunst», die mehr oder weniger direkt auf geometrische Konstruktionen Bezug nimmt und keinerlei symbolische Bedeutung mehr besitzt. Die geometrisch abstrakte Malerei lässt sich, ausgehend von prominenten theoretischen Ansätzen Piet Mondrians und Theo van Doesburgs, als eine Stilrichtung definieren, die ihre Bildinhalte ganz den Anliegen und Forderungen der Mathematik und der ausgewogenen Komposition unterstellt und auf diese Weise einen dialektischen Gegenpol zu mimetischen Darstellungsmodi bezieht.

ohne Titel, Nr. 245, Öl auf Leinwand, 122 x 85 cm
ohne Titel, Nr. 324, Öl auf Leinwand, 148 x 109.5 cm

Die beiden Bilder lassen eine weitere Facette des vielschichtigen Künstlerwesens Widmars erkennen: In ihnen ist kein Platz mehr für eine Malweise mit gestischem Duktus und improvisierender Spontaneität. Hier gilt es, gedankliche Konstrukte auf klar definierte, eigenständige Farbflächen zu übertragen, die ihrerseits einen akribischen und technisch anspruchsvollen Malstil erfordern. Die spiralförmigen Windungen erzeugen dabei keine eindimensionale Bewegung ins Bild hinein, sondern lassen ebenso deutlich eine Gegenbewegung zum Betrachter hin erkennen. Dadurch entsteht ein Wechselspiel verschiedener Bewegungsrichtungen, die keine eindeutige Ausrichtung besitzen. In dem Masse, in dem die Spiralbewegung einen Weg nach Innen bezeichnet, lässt sich derselbe Vektor in eine Bewegung aus dem Bild hinaus umkehren. Diese Zone der Unentscheidbarkeit geht Hand in Hand mit der kompositorischen Ausgewogenheit der Farben. Dies verweist auf Widmars künstlerisches Interesse, über die formale Stilsuche in der gegenständlichen Abbildung hinaus zu gehen.

ohne Titel, Nr. 003, Öl auf Leinwand, 138 x 121 cm
ohne Titel, Nr. 002, Öl auf Leinwand, 138 x 124 cm
ohne Titel, Nr. 376, Öl auf Leinwand, 61.5 x 50.5 cm
ohne Titel, Nr. 288, Öl auf Leinwand, 122 x 94 cm

SAKRALE MALEREI

Der Themenbereich der sakralen Malerei bildet die kleinste Werkgruppe in Widmars Oeuvre. Ob der Künstler sein Leben nach einer bestimmten Religion gelebt hat, ist ebenso wenig zu beantworten wie die Frage nach den Beweggründen Widmars, die ihn während der Auseinandersetzung mit den religiösen Inhalten seiner Malerei motiviert haben. Wir können lediglich mit Sicherheit sagen, dass Widmar spätestens in Brasilien mit einem religiösen Umfeld konfrontiert worden ist, dessen Rituale und Bräuche für den Künstler ganz neue Erfahrungen bedeutet haben mussten. Wir haben keine Hinweise darauf, dass die religiösen Bilder als Auftragsarbeiten angefertigt worden sind und dürfen somit voraussetzen, dass die Gemälde von einer tiefgreifende persönliche Auseinandersetzung des Künstlers mit der christlichen Religion bestimmt sind.

ohne Titel, Nr. 009, Öl auf Leinwand, 100 x 79 cm

In der Werkgruppe sind vor allem Darstellungen von gefolterten und geschundenen Körpern vertreten. Die Spuren der körperlichen Misshandlungen sind von grosser Unmittelbarkeit. Besonders drastisch zeigt sich dieser Sachverhalt in den beiden Darstellungen mit den an einen Baum oder an Bambusstangen gefesselten Personen. Sie zeigen Menschen, die, um ihres religiösen Bekenntnisses willen, den Tod erleiden. Der eine Märtyrer erleidet durch leuchtende Pfeile an einen Baum gefesselt den Tod. Hier handelt es sich wohl um die Darstellung des Martyriums des heiligen Sebastians. Sebastian war Offizier der kaiserlichen Garden und wurde, weil er sich öffentlich zum Christentum bekannte, von Kaiser Diokletian zum Tode verurteilt. In der zweiten Darstellung handelt es sich ohne Zweifel um Christus selbst: Die Dornenkrone, die Seitenwunde und die blutigen Wunden auf den Handflächen verweisen ikonographisch eindeutig auf die Passion Christi. Der Blick von Christus ist nach oben gerichtet, auf etwas, das ausserhalb des Bildausschnitts zu liegen scheint. Der Verweis auf den bevorstehenden Tod wird durch diesen Impetus ganz von einem erlösenden Moment durchdrungen.

ohne Titel, 1955, Nr. 011, Öl auf Leinwand, 84 x 84 cm
ohne Titel, Nr. 300, Öl auf Leinwand, 200 x 70 cm

Eine andere Darstellung zeigt den Erlöser mit segnendem Gestus über einem Meer seiner Anhängerschaft. Das Gemälde ist in Pastelltönen gehalten, wobei sich einzig die schwarze, das Haupt Christi umgebende Sonne, von den weichen Farbtönen abhebt. Dies verleiht ihr trotz der dunklen Farbigkeit eine Art strahlende Wirkung. Eine weitere Darstellung zeigt das isolierte Antlitz Christi. Das Bild vermittelt durch seine unscharf umrissenen Konturen und die weichen, ineinander fliessenden Brauntöne, einen ikonenhaften Eindruck. Dazu trägt ausserdem der undefinierbare, maskenhaft verschleierte Gesichtsausdruck bei, der eine distanzierte Erhabenheit hervorruft. In der Darstellung lässt sich ohne viel Mühe eine direkte Anspielung auf das Schweisstuch der Veronika lesen, den eigentlichen Ursprung der Ikonenmalerei. Der Legende nach hat Veronika ihr Tuch Jesus auf dessen Weg nach Golgatha, dem Ort seiner eigenen Kreuzigung, gereicht, damit dieser seinen Schweiss und das Blut vom Gesicht waschen konnte. Dabei soll sich das Gesicht Jesu auf wundersame Weise auf dem Tuch abgebildet haben.

Resümierend können wir festhalten, dass die religiösen Bilder Widmars von der Christus- und Martyriumsthematik bestimmt sind. Die Frage, was den Künstler dazu veranlasst haben mag, ein solches Themenrepertoire während seiner Schaffenszeit immer wieder aufzugreifen, bleibt unbeantwortet.

ohne Titel, Nr. 296, Öl auf Leinwand, 170.5 x 122.5 cm
ohne Titel, Nr. 013, Öl auf Leinwand, 69 x 56.5 cm